
7.Dezember 2015
Weihnachtspost
Novalis saß am Fenster und schaute den Schneeflocken zu. Sie sahen hübsch aus, aber er wusste genau: Wenn man sie fing, waren sie erst kalt, dann nass und dann weg. Außerdem musste man dazu ins Freie gehen, und dort war es derzeit äußerst ungemütlich. Es machte mehr Spaß, im warmen Zimmer zu sitzen und die wirbelnden Dinger mit den Augen zu verfolgen.
Tina kam, um Novalis zu streicheln. Ein wenig ungeduldig wich er aus. Dass die Menschen nie bemerkten, wenn eine Katze anderwärts beschäftigt war ... Besonders die ganz kurzen Menschen, wie Tina einer war.
"Ich schreib einen Brief ans Christkind", sagte Tina zu Novalis. "Weil ich mir nämlich eine Menge Sachen wünsche. Und die muss man dem Christkind aufschreiben, sonst vergisst es womöglich was."
Novalis hörte aufmerksam zu. Das interessierte ihn. Wünsche hatte er nämlich auch. Tina nahm ein Stück Papier und begann, blaue Zeichen draufzumalen.
Novalis hätte gern gewusst, wer dieses Christkind war. Und wo. Und warum es Wünsche erfüllte. Jedenfalls musste es ziemlich schlau sein, wenn es die Zeichen verstehen konnte, die Tina aufs Papier kritzelte. Novalis schaute mit schiefgelegtem Kopf zu. Ich will auch einen Brief schreiben, dachte er. Und er begann, in Gedanken zu formulieren:
Wertes Christkind,
wenn Du wirklich so lieb bist, wie allgemein behauptet wird,, dann ersuche ich Dich höflich um die Erfüllung folgender Wünsche:
1. Keine verschlossenen Türen mehr im Haus. Ich hasse Türen, die zu sind.
2. Öfter mal Fisch zum Frühstück - oder auch zum Abendessen. Ich liebe Fisch.
3. Das Wichtigste: Schick mir einen Kollegen. Menschen sind ganz nett, aber eben doch nur Menschen. Und gelegentlich will man kätzisch reden.
Es reicht Dir die Pfote zum Gruß und Dank
Novalis, derzeit einziger Kater hier.
So, dachte Novalis. Jetzt muss ich nur noch ein Zeichen auf ein Papier bringen. Das gehört offensichtlich dazu.
Er versuchte es mit einem von Tinas Schreibstiften. Aber das Ding war nicht für Katzenpfoten gedacht. Es rollte über den Tisch und fiel auf den Boden. Tina sagte etwas Unfreundliches zu Novalis.
Beleidigt ging Novalis ins Nebenzimmer. Einer von den großen Menschen saß da und zeichnete schwarze Striche auf ein weißes Papier. Die schwarze Farbe kam aus einem kleinen Tiegel, wie Novalis feststellte. Papier lag auch genug herum. Vorsichtig tauchte Novalis eine Pfote in den Tiegel und setzte sie dann auf weißes Papier.
"Ausgesprochen schön", stellte er fest. "Das wird dem Christkind bestimmt gefallen."
Die laute, aufgeregte Stimme des Menschen schreckte ihn aus seiner Beschäftigung. "Lass das, du Untier. Troll dich da! Ausgerechnet ans Tuschfass muss er! Dieser Kater kostet mich meine letzten Nerven!"
Novalis flüchtete und reinigte seine schwarze Pfote am Vorzimmerteppich.
Menschen!, dachte er verstimmt. Haben einfach von nichts eine Ahnung. Grollend zog er sich unter ein Sofa zurück und versuchte, seine noch immer schwarze Pfote mit der Zunge zu säubern.
Auf einer geräumigen Wolke saßen mehrere Engel und sortierten Briefe.
"Was sich die Menschen so alles wünschen!", sagte einer der Engel kopfschüttelnd.
"Weiß jemand, was ein Computerspiel ist?", rief ein anderer.
"Keine Ahnung", sagte ein dritter. "Noch nie gehört. Wie ich neu hier war, haben sich die Kinder Märchenbücher und Zuckerwerk vom Christkind gewünscht. Allerhöchstens einmal warme Winterschuhe."
"Oh, was haben wir denn da?" Einer der Engel hob ein weißes Papier mit schwarzen Pfotenabdrücken hoch. "Der Absender muss eine Katze sein. Das kommt nicht so oft vor. Kann wer zufällig die Katzenschrift lesen?"
"Der Oberpostengel!", rief jemand.
Und so landete der Brief mit den schwarzen Pfotenspuren auf einer rosaroten Eilwolke, die für den Oberpostengel bestimmt war.
"Du lieber Himmel, ein Brief von einer Katze! So was hab ich zuletzt vor mehr als dreihundert Jahren in den Händen gehabt", brummte der Oberpostengel. Er setzte eine goldgefasste Brille auf und studierte eine Weile die schwarzen Spuren auf dem Papier. "Keine Chance", murmelte er schließlich, "das muss an allerhöchster Stelle erledigt werden." Er gab den Brief einem Express-Engel, der soeben vorbeiflog.
Das Christkind nahm gerade einen Stapel Post aus dem Fach mit der Aufschrift "Unmögliches". So ganz nebenbei fiel sein Blick auf das Blatt Papier, das der Express-Engel abgegeben hatte. Das Christkind lächelte ... Wenig später lag der Wunschzettel, den Novalis geschrieben hatte, in der Abteilung "Genehmigt".
Versehen mit der eigenhändigen, allerhöchsten Unterschrift.
Novalis war wieder einmal beleidigt. Sie ließen ihn nicht auf den Tannenbaum klettern, den sie im großen Zimmer aufgestellt hatten.
Sie schimpften, weil die Silberbälle alle zerbrochen waren. Er hatte doch nur ausprobiert, ob wenigstens einer hüpfen konnte. Und von den Glitzerfäden am Baum war im schrecklich schlecht geworden. Jetzt lag er unter dem Sofa und nahm übel.
Weihnachten ist blöd, dachte er. Nie wieder schreib ich dem Christkind einen Brief.
Die großen Menschen stapelten Pakete rund um den Tannenbaum. Es raschelte und Novalis kam unter dem Sofa hervor. Aber jetzt war es ihnen wieder nicht recht, dass er anfing, auszupacken. Obwohl er das mit seinen Krallen wirklich hervorragend konnte.
"Das ist kein Kater, das ist eine Katastrophe", sagte einer der Menschen.
Novalis verstand nicht genau, was damit gemeint war. Aber dass es nichts Freundliches war, merkte auch der dickfelligste Kater. Und Novalis war nicht besonders dickfellig.
Er ging, um bei Tina Trost zu suchen. Die Zimmertür war wieder einmal zu. Auch das noch. Und niemand reagierte auf seine empörte Beschwerde. Zur Strafe kratzte er am Spannteppich. Dann legte er sich in eine Schachtel unter dem großen, gemauerten Ofen und beschloss, Weihnachten zu verschlafen. Nach Katzenart schlief er auch tatsächlich sofort ein. Novalis wachte von Tinas Stimme auf. "Novalis ist weg. Ich find ihn nirgends", beklagte sie sich. "Ohne ihn kann man doch nicht Weihnachten feiern." Novalis fühlte sich verstanden, gähnte zufrieden und kam aus seinem Versteck.
"Wir lesen noch eine Weihnachtsgeschichte, bis es dunkel ist", sagte einer der großen Menschen. "Komm zuhören, Novalis!", rief Tina. "Geschichten sind fein."
Den Anfang der Geschichte versäumte Novalis, weil er versuchte, eine Fliege zu fangen. Aber dann hörte er zu. Es war alles ganz furchtbar traurig. Nirgends wolllte man Josef und Maria einen Schlafplatz und was zu essen geben. Wo es doch so kalt draußen war. Novalis war nicht ganz sicher, ob mit Josef und Maria Menschen oder Katzen gemeint waren. Das machte aber auch keinen Unterschied. Nicht einmal einen Menschen durfte man bei so einem Wetter fortjagen! Er schüttelte sich bei dem Gedanken an Schnee, Kälte und Hunger.
"Seid barmherzig, lasst uns ein", las der große Mensch.
Novalis stellte die Ohren auf. Irgendwas scharrte an der Tür. "Packt euch fort, hier ist kein Platz für euch", las der Mensch weiter. Diesmal war das Geräusch an der Tür nicht zu überhören.
"Passt ja direkt zur Geschichte", sagte der Mensch. Er legte das Buch weg und ging hinaus, um nachzuschauen.
"Seht einmal, was da draußen war", sagte der Mensch, als er wieder hereinkam. Er setzte ein struppiges, nasses Etwas auf den Fußboden, das sich zunächst einmal kräftig schüttelte und dann dreimal nieste. Das könnte eine Katze werden, wenn es trocknet, dachte Novalis.
Er ging schnuppernd näher. Das nasse Etwas nieste wieder und wich vor Novalis zurück.
"Kommst du vom Christkind?", fragte Novalis. "Kenn ich nicht", sagte das Nasse. "Ich geh am besten wieder."
"Kommt nicht in Frage", brummte Novalis. "Du bist mein Weihnachtsgeschenk".
"Ich koche Fisch für die Katzen", sagte der Mensch mit der hellen Stimme.
Noch ein Geschenk, staunte Novalis. Nie wieder schimpf ich auf Weihnachten.
Nach einer Weile kam der Mensch mit der hellen Stimme wieder und sagte zu dem Menschen mit der dunklen Stimme: "Hast du schon bemerkt? Im ganzen Haus kann man die Türen nicht mehr zumachen. Sie klemmen oder so was Ähnliches."
Also gründlich ist es. Das muss man dem Christkind wirklich lassen, dachte Novalis.
Ich wünsche euch einen wunderschönen Tag! Silvia :)
Autor: Edith Schreiber-Wicke